Objekt des Monats November 2022
Farbenharmoniesucher
Im Zusammenhang mit den Forschungen zur Farbenlehre Wilhelm Ostwalds entstanden zahlreiche Arbeitsmittel für verschiedene Nutzungszwecke. Nicht wenige wurden von Ostwald selbst oder seinen Angestellten in Großbothen entwickelt, hergestellt und vertrieben. Einige wurden jedoch auch von anderen Personen oder Firmen auf Grundlage der Forschungen Ostwalds veröffentlicht. So entwickelte der Buchdruckfachlehrer Franz Illgner aus Dresden in der Mitte der 1920er-Jahre unter dem "Deutschen Reichs-Gebrauchsmuster Nr. 838796“ mehrere Versionen von „Farbenharmonie-Suchern in Anwendung der Farbenlehre nach Prof. W. Ostwald“. Ziel dieser in Heft- bzw. Buchform vorliegenden Vorrichtungen war es, mithilfe drehbarer Lochscheiben über dem Ostwaldschen Farbkreis harmonische Farbakkorde in Zwei-, Drei- oder Vierklängen ablesen zu können. Je nachdem, auf welche Ziffer die obere Papierscheibe eingestellt wird, ergeben sich Abdeckungen bzw. Öffnungen mit der unteren Scheibe, die wiederum auf den unterlegten 24-teiligen Farbkreis eingestellt werden können. In unserem Beispiel ist rechts oben die sogenannte klare Vollfarbe 08 aus dem Farbkreis na eingestellt, die ebenso im Beispiel des kleinen Farbdreiecks auf der linken Seite zu sehen ist. Der eingestellte harmonische Vierklang ergibt als zugeordnete Vollfarbe 33, 58 und 83. Die drei anderen Farbtonkreise zeigen die äquivalenten Abstufungen von ea bis ni in den jeweiligen hellklaren bzw. dunkelklaren Farbtönen.
Die Herstellung der Farbharmoniesucher war sehr aufwändig und mit viel Handarbeit verbunden. Konnten die Drehscheiben nach Anfertigung von Schablonen maschinell ausgestanzt werden, mussten die einzelnen Farbfelder von vorgefertigten, eingefärbten Papierbögen manuell an die korrekten Stellen aufgeklebt werden. Ein Farbdruck wie heute üblich konnte zu dieser Zeit nicht die notwendige Farbtreue der einzelnen Felder gewährleisten. Wie ergänzte Aufdrucke zeigen, wurde der Vertrieb der Farbharmoniesucher später von der WOFAG (Wilhelm Ostwald Farben-Aktien-Gesellschaft, Berlin) übernommen.
Die Vorstellung, dass dem menschlichen Empfinden gewisse Klänge, Proportionen oder Farbtöne naturgemäß besonders angenehm erscheinen, waren bereits seit Jahrhunderten in Architektur und Musiklehre weit verbreitet. Allerdings war die Tonkunst viel stärker definiert als die Malerei, weil ihre Wissenschaft, die Akustik, und die auf ihr beruhende Harmonielehre seit der Antike untersucht wurde, während Harmoniesysteme der Farben erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt und definiert wurden.
Ostwald nahm für sein, auf wissenschaftlichen Untersuchungen basierendes Farbsystem in Anspruch, nicht nur Farbtöne und deren verschiedenste Abstufungen definieren, sondern daraus auch „gesetzmäßig schöne“ Farbklänge ableiten zu können. Was für viele Anwendungen in Industrie und Gestaltung durchaus zielführend war und Anerkennung erfuhr, wurde von der weit überwiegenden Zahl der freien Künstler jedoch abgelehnt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die Bildende Kunst begonnen von akademischen Fesseln zu befreien und ging vollkommen neue Wege. Vorgaben von Farbharmonien oder natürlichen Proportionen waren für die Kunst der entstehenden „Moderne“ daher, ob wissenschaftlich begründet oder nicht, letztlich nicht mehr akzeptabel.