Objekt des Monats Juni 2023
Ein Festkleid für die Nobelpreisverleihung
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Bedeutende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, heißt es. Als Wilhelm Ostwald vier Wochen vor dem 10. Dezember 1909 unter der Maßgabe der größtmöglichen Verschwiegenheit mitgeteilt wurde, dass ihm aufgrund seiner Forschungen zur Katalyse der Nobelpreis in Chemie verliehen wird, füllte sich der Landsitz Energie mit Aufregung und Vorfreude. Helene Ostwald, der das Reisen sonst kein besonderes Vergnügen bereitete, würde nun ihren Mann nach Stockholm begleiten. Um beim Empfang des schwedischen Königs Gustav V. dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein, ließ sie sich ein Festkleid anfertigen und Schmuck umarbeiten. Durch die Schleppe und die gepufften Ärmel wirkte es ausgesprochen feierlich und wurde durch den umgearbeiteten Schmuck, den Helene zu tragen gedachte, vervollkommnet. Wilhelm und Helene Ostwald ließen sich beide in ihrer jeweiligen Garderobe fotografieren. Die beiden Porträts im Viertelprofil finden sich gemeinsam mit dem später umgearbeiteten Kleid in der Ausstellung.
Das Festkleid wurde aus beigefarbenem, sogenanntem Spiegelsamt geschneidert. Spiegelsamt ist kurzflorig und erhält durch Flachpressen seinen typischen Glanz. Der Schnitt folgte einer S-Linie im Profil. Dabei wurden besonders Brust und Gesäß hervorgehoben, wenngleich nicht so betont wie in Verbindung mit einem festen Korsett. Die der damaligen Mode entsprechende S-Linie wurde durch das Jabot – einem Spitzeneinsatz unterhalb des Dekolleté – und die Schleppe am Rockteil gebildet. Die Dreiviertelärmel sind gepufft und gehen an den Unterarmen in Spitzenmanschetten über, welche aus der gleichen Spitze wie das Jabot gefertigt wurden. Der Stehkragen umfasste den Hals und wurde mit Soutachen – schmalen, geflochtenen Schnüren – verziert. Diese zogen sich über die vordere Mitte bis zum Jabot und dekorierten die Säume an den Ärmeln. Der Rockteil fiel in lockerer Glockenform und war bodenlang mit einer Schleppe an der hinteren Mitte. Der Gesamteindruck des Kleides ist weitgehend dem Historismus verhaftet und wirkt auf den modernen Betrachter üppig und verspielt. Während sich um 1890 und 1914 die Damenmode aufgrund veränderter sozialer Gegebenheiten und der zunehmenden Selbstwahrnehmung der Frauen besonders rasch wandelte, hatte sich Helene Ostwald mit ihrem Festkleid für eine eher traditionelle Kleidersprache entschieden. Leider konnte der schwedische König Helenes Kleid nicht bewundern, denn all die Aufregung hatte ihr eine Ohnmacht beschert und sie blieb im Hotel.
Neben den historischen Fotografien mit dem Originalzustand hat sich die überarbeitete Fassung von Helenes Kleid erhalten. Es wirkt nunmehr bedeutend schlichter. Die Ärmelsäume und der hohe V-förmige Halsausschnitt werden von glatter Tüllspitze eingerahmt. Leicht tailliert ist es boden-beziehungsweise knöchellang gehalten, die Rockbahnen sind am V-Ausschnitt angesetzt und an der Brustnaht gekräuselt. Wahrscheinlich wurde Helene Ostwalds Kleid später für eine Enkelin umgearbeitet, denn die heutigen Proportionen entsprechen einer zierlichen, sehr schlanken Person.
Maße: Schulterbreite ca. 30cm, Länge ca. 130cm
Quelle: Grete Ostwald „Mein Vater“, 1953