Objekt des Monats Juli 2024
Orenburger Tuch
Eine Reise von Großbothen bis zum südwestlich des Uralgebirges gelegenen Orenburg dauert mit dem Zug etwa 3 Tage und überwindet 3142 Kilometer. Orenburg ist unter anderem berühmt für die dort seit dem 18. Jahrhundert hergestellten Orenburger Tücher und Schals. International bekannt wurden die Tücher durch die Pariser Weltausstellung 1855. Es spricht für die besondere Qualität eines traditionell gefertigten Tuches, wenn es sich durch einen Fingerring ziehen lässt und zusammengeknäuelt nicht größer als ein Gänseei ist.
Auch Helene Ostwald (1854 – 1946) besaß eines dieser kostbaren Tücher. Es ist cremefarben und besitzt eine quadratische Form mit zirka 140 Zentimeter Kantenlänge. Im Mittelteil findet sich ein Lochmuster, welches von einem umlaufenden, großmaschigen Strickmuster eingefasst wird. Das Gewicht des Tuches beträgt gerade einmal 65 Gramm.
Die Wolle für das Tuch stammt von der Orenburger Ziege. Das sehr dünne Winterhaar dieser speziell im 19. Jahrhundert gezüchteten Rasse macht die daraus gefertigten Tücher besonders zart und luftig. Versuche, die Orenburger Ziegen ebenfalls in Frankreich zu züchten, schlugen fehl; die Tiere bekamen nach einer Weile das gewöhnlich dicke Fell. Offenbar braucht es die raueren klimatischen Bedingungen der Steppe. Bevor das Flaumhaar der Ziege verarbeitet wird, muss es mit Hand ausgekämmt werden. Die Wolle wird von den Strickern und Strickerinnen selbst gesponnen und auf einem Seiden- oder Baumwollfaden verzwirnt.[1] Geometrische Muster wie auch Lochmuster sind sehr beliebt. Die Formate können rechteckig, quadratisch sowie dreieckig sein. Manche Strickerin hat im Laufe der Zeit eine eigene, stilgebende Strickart entwickelt, welche zusammen mit einem traditionellen Muster ein Unikat besonderer Güte darstellt. Die feinen Strickarbeiten wurden insbesondere zu feierlichen Anlässen ausgeführt. Während des Kalten Krieges erlebten die Tücher eine große Popularität innerhalb der damaligen UdSSR. Ein Besuch in Orenburg erschien nur als lohnenswert, wenn auch ein Orenburger Tuch erworben wurde. Nach wie vor gelten diese handgefertigten Tücher und Schals als Luxusartikel und werden bevorzugt zu besonderen Anlässen getragen.
Zu welchem Zeitpunkt das Tuch in den Besitz Helene Ostwalds kam und ob es eventuell ein Geschenk ihres Mannes war, ist nicht bekannt. Es wurde jedoch offensichtlich nur zu ausgewählten Anlässen getragen und sehr gepflegt, denn es präsentiert sich für sein Alter und das ausgesprochen empfindliche Material in einem guten Erhaltungszustand.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Orenburger_Schal