Objekt des Monats Juni
Postkarte


Aus Wilhelm Ostwalds Schriften und seiner Forschertätigkeit wird deutlich, dass eine Verschwendung von Zeit und anderen Ressourcen unbedingt zu vermeiden sei. Dies manifestiert sich in einem unscheinbaren Objekt – der vorgedruckten Postkarte. Im Hinblick auf sein fortgeschrittenes Alter und der damit verbundenen Endlichkeit von Lebenszeit hatte Wilhelm Ostwald Postkarten anfertigen lassen. Denn auch im Alter erreichten ihn täglich Anfragen und Bitten, die er nicht im Einzelnen beantworten konnte. Jedoch entsprach es nicht seinen Gepflogenheiten, diese Anfragen einfach zu ignorieren. Daher schickte er dem Absender eine Postkarte mit dem Wortlaut:
„In meinem Alter reichen die Energien nicht mehr aus, den vorhandenen Pflichten zu genügen. Ich bin deshalb leider genötigt, neue Beanspruchungen grundsätzlich abzulehnen.“
Diese Vordrucke sind 14,5 cm breit und 10,8cm hoch und weicht damit geringfügig vom heutigen DIN A6 Format für Postkarten ab. Das Papier ist gestrichen, fühlt sich also glatt an und dem Alter gemäß gelblich. Auf der Vorderseite findet sich das Adressfeld und die Kennzeichnung „Drucksache“. Die Rückseite trägt den oben genannten Text.
Bevor Postkarten die Kommunikationswelt eroberten, gab es sogenannte Korrespondenzkarten. Diese sollten es dem Sender ermöglichen, in aller Kürze zu berichten und Informationen zu einem geringeren Entgelt zu versenden. Bereits vor 155 Jahren wurde nicht jede Neuerung kritiklos angenommen. Und so wurden auch der Korrespondenzkarte Bedenken entgegengebracht, dass diese womöglich gegen das Postgeheimnis verstoße und man sittliche Unanständigkeiten zu befürchten habe. Schließlich waren die sonst privaten Nachrichten nun offen lesbar. Dabei bot eine Postkarte so viel mehr Freiheit, eben durch das begrenzte Textfeld. Ohne ausschweifende Formulierungen konnten die wichtigsten Informationen versandt werden. Später kamen Ansichtskarten in Mode, diese übermittelten nicht nur die Worte, sondern boten dem Empfänger einen meist idyllischen optischen Eindruck, wo der Absender sich gerade aufhielt.
Am 25.06.1870 konnten auch in Deutschland die ersten Postkarten erworben werden. Bereits 1865 hatte sich Heinrich von Stephan (1831–1897) für Postkarten ausgesprochen und folgte damit dem Zeitgeist. Fünf Jahre später wurde er zum Generalpostdirektor ernannt. Sein Beitrag zur Entwicklung des Postwesens ist elementar und bildet die Grundlage für unsere heutigen Begrifflichkeiten wie beispielsweise Nachnahme, Einschreiben und Briefumschlag. Als größter Verdienst Stephans gelten die Schaffung des Weltpostvereins sowie der Anschluss des Telegrafenwesens an die Post.
Wilhelm Ostwald war ein eifriger Briefeschreiber mit mehr als 5000 Briefpartnerinnen und Briefpartnern in aller Welt. Darunter finden sich Bertha von Suttner, Ernst von Meyer, Fritz Haber, Svante Arrhenius und William Ramsay, um nur einige zu nennen. In den Schriftstücken fand ein reger Austausch über neue Erkenntnisse und Ideen statt. Um die Menge an Korrespondenz zu bewältigen, gab es im Haus Energie ein Postzimmer. Hier wurden die Eingangspost sortiert und die Briefe zum Versand vorbereitet. Tochter Grete weiß zu berichten: „Die Post kam zwischen 9 und 10 Uhr und hatte zuerst die Kontrolle bei Frau Geheimrat zu passieren, ehe sie in das sogenannte Postzimmer, das Morgensonnezimmer gelegt wurde.“[1] Auch hier wusste Ostwald durch Arbeitsteilung die eigenen Ressourcen effizient zu nutzen.
Weilte Ostwald auf Reisen, schrieb er gewöhnlich auch an seine Frau Helene ausführlich, um von kleinen und großen Beobachtungen sowie Erlebnissen zu berichten. Im Gegensatz zu Ostwald teilte sie dessen Begeisterung für die Postkarte nicht: „Besten Dank für Deine Karten, […] die mir fast wie eine Abschiedssymphonie vorkommen. Keine Briefe mehr, nur Karten. Aber in der Tat das Einfachste.“[2]
[1] Grete Ostwald, „Mein Vater“, S. 105
[2] Ebenda, S. 146