Objekt des Monats März
Skizzenbuch „Insel Wight, 1896“



Die Malreisen hatten auf Wilhelm Ostwald immer eine heilsame Wirkung. Nach starken Beanspruchungen der letzten Monate im Jahre 1895 kamen die Erschöpfungserscheinungen im Nachgang seines Vortrags zur Energetik auf der Naturforscher-Konferenz in Lübeck, bei der er in der öffentlichen Debatte gegen Ludwig Boltzmann zuviel Kraft hatte aufwenden müssen. Sein Energievorrat war erschöpft und so begab er sich für einige Zeit nach Italien.
Dazu einige Zeilen aus den Lebenslinien: „Nun aber waren die Reserven vollständig erschöpft und ich erlitt den unvermeidlichen Zusammenbruch. Schlaflose Nächte, niedergedrückte Stimmung, die sich nicht überwinden ließ, Unfähigkeit zur Arbeit, Gedankenflucht, kurz die wohlbekannten Erscheinungen der Überbeanspruchung des Gehirns traten Ende 1895 bei mir auf und machten mich sehr unglücklich. Eine Beratung durch meinen Kollegen Flechsig, den Psychiater, klärte mich über die physiologischen Ursachen dieses Zustandes auf und erweckte Hoffnung auf seine Beseitigung. Nur völlige Ruhe und zunächst die Ausschaltung aller wissenschaftlichen Arbeit sei erforderlich, sagte er.“ Im Mai 1896 beendete Ostwald seinen Aufenthalt in Italien, reiste zurück und auf Anraten von Paul Flechsig verbrachte er nachfolgend noch einige Wochen auf der Insel Wight vor der Südküste Englands. Deren Klima ermöglichte es weiterhin viel Zeit im Freien zu sein. Wilhelm Ostwald bezog Quartier im kleinen Badeort Freshwater Bay im Westen der Insel, wo er eine ruhige Unterkunft fand.
Im Nachlass Ostwalds befinden sich einige Skizzenbücher in verschiedenen Formaten. Eines dieser Bücher, in braunem Leder gebunden, hat verschiedenfarbige bräunliche und grau-blaue Seiten. Durch die Beschriftung „Insel Wight, 1896“ und dem Signum von Wilhelm Ostwald auf der vordersten Seite, kann das Skizzenbuch genau zugeordnet werden. Ostwald schrieb auf fast alle 45 Skizzenblätter den Ort wodurch sich die Reise gut nachvollziehen lässt. Die Zeichnungen sind auf Papier mit Bleistift ausgeführt, beginnend mit der Darstellung von Booten, vermutlich in den Häfen an der Nordsee und dem Ärmelkanal, wo ihn seine Reise entlangführte. Die Motive im Skizzenbuch sind nicht nur Landschaften, sondern umfassen auch Tierstudien und Architektur. Ebenso, was für Wilhelm Ostwald eine Seltenheit ist, auch vereinzelt Personendarstellungen. Einige dieser Skizzen setzte er später in Malerei mit Öl auf Papier um, beispielsweise die für die Insel Wight bekannten „Needles“ sowie die Küstenlandschaft „Freshwater Bay“ mit dem „Arched Rock“.
Nach dieser Zeit des einsamen Malens, in der seine „künstlerischen“ Gehirnabschnitte beansprucht wurden, setzte die ersehnte Regenerierung ein. Zu Pfingsten besuchte ihn noch sein Freund und Wissenschaftler William Ramsay auf der Insel Wight. Ab diesem Zeitpunkt begann sich Ostwald behutsam wieder einigen wissenschaftlichen Tätigkeiten zu widmen: „Nachdem ich dergestalt ein Vierteljahr lang völlige Enthaltung von wissenschaftlicher Arbeit geübt hatte, versuchte ich noch in Freshwater Bay vorsichtig, wieder den Betrieb aufzunehmen.“
In dem Skizzenbuch befinden sich auf weiteren Seiten noch Darstellungen der Kieler Bucht, welche er gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern im Lauf des Jahres 1896 bereiste. Darüber hinaus folgen noch einige Skizzen seiner Reise im Jahr 1897 an den Gardasee mit den Orten Saló und den Gemeinden Gargnano und Gardone.
Maße Skizzenbuch: 22 × 14,3 × 1 cm
Quellen und Zitat: Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien, 2. Band, 1926/27