Objekt des Monats November 2023
Ölstudie der Niagarafälle – Entwurf und Werk


Die Aneignung der Umwelt durch Landschaftsstudien ist spätestens seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Teilen der europäischen Künstlerschaft zunehmend verbreitete Praxis. Ein wesentlicher Faktor für diese Entwicklung war die Möglichkeit, Ölfarben transportabel abzupacken und somit direkt unter freiem Himmel auf Papier malen zu können.
Wilhelm Ostwald schuf über Jahrzehnte hinweg auf seinen Reisen zahlreiche Landschaftsstudien direkt vor Ort, darunter mehrere der Niagarafälle an der Grenze zwischen Kanada und den USA. Ein besonders eindrückliches Naturschauspiel, welches bereits im 19. Jahrhundert intensiv touristisch erschlossen worden war. Neben den fertiggestellten Studienblättern finden sich im Sammlungsbestand immer wieder Blätter, die Unterzeichnungen in Bleistift erkennen lassen. Besonders aussagekräftig für Ostwalds Herangehensweise an seine Bildkompositionen sind einige Werke, die entweder in Teilen unvollendet blieben oder auf Vorder-/Rückseite das identische Motiv einmal angelegt und einmal fertiggestellt zeigen. Als Beispiel dafür können die beiden Varianten der Niagarafälle von 1904 gelten.
Das Motiv der Niagarafälle ist auf der Rückseite mit wenigen, recht wild und planlos erscheinenden Linien strukturiert. Am oberen Bildrand sind einige blaue und weiße Flächen angelegt, in der Bildmitte weitere, ebenfalls weiße. Die Beschriftung »Niagara 1904« ist kein Bildbestandteil, sondern eine nachträgliche Notiz, die die Seite eindeutig zu einer Rückseite erklärt. Selbst mit diesem erklärenden Bezug wird das Bildmotiv kaum definierbar. Erst das Wenden des Blattes auf die heutige Vorderseite lässt das eigentliche Bildmotiv sichtbar werden. Auf den ersten Blick scheinen beide Seiten keinen unmittelbaren Bezug aufeinander zu nehmen. Bei genauerem Vergleich erweist sich jedoch, dass die Rückseite exakt die Bildkomposition der Vorderseite aufweist. Die untere Grenze der horizontalen Weißfläche in der Bildmitte zeigt beispielsweise die exakte Linienführung der Felsen im Vordergrund des ausgeführten Motivs. Auch die vertikale Grenze des herabstürzenden Wassers zur dahinterliegenden Gischt ist weitgehend identisch. Die Unterschiedlichkeit der Wolkenanordnung am oberen Bildrand muss aufgrund des zu erwartenden zeitlichen Wechsels der Konstellation nicht überraschend, sondern vielmehr als folgerichtig angesehen werden.
Die Weißflächen in den Ölstudien Ostwalds weisen wiederholt bräunliche Verfärbungen auf, so auch in den vorliegenden Studien, insbesondere wenn die Farbe pastos aufgetragen wurde. Dabei handelt es sich um die sogenannte ‹Bleiweißschwärzung›, bei der das seinerzeit übliche Weißpigment durch schweflige Bestandteile in der Luft dunkelbraun bis schwärzliches Bleisulfid bildet.
Niagara, Ölstudie auf Papier, 24 × 31,7 cm