Objekt des Monats März 2023
Die Welt der Formen
Im Kontext seiner Forschungen zur messenden Farblehre entwickelte Wilhelm Ostwald seit 1914 eine – nach seiner Auffassung naturwissenschaftlich-gesetzliche – Farbenharmonie. Aus dieser ging wiederum eine inhaltliche Erweiterung seiner Harmonie-Gesetze hervor, die Publikation „Welt der Formen“. Wie Ostwald feststellte, „[…] sah ich mich genötigt, das neue Gebiet der Formenlehre zu betreten und in den Grundlagen zu bearbeiten, weil das vertiefte Studium der Farbharmonik mit Notwendigkeit Klarheit über diese Fragen forderte.“ (W. O. Die Harmonie der Formen, Leipzig, Unesma Verlag, 1922, S. V).
Neben der oben zitierten Buchpublikation mit den theoretischen Grundlagen der „allgemeinen Lehre von den gesetzlichen Formen“ veröffentlichte Ostwald ab 1922 die kleinformatige Mappenfolge „Die Welt der Formen. Entwicklung und Ordnung der gesetzlich schönen Gebilde“ (ca. 12,5 × 17 cm), die wohl auf sechs Mappen angelegt war, jedoch wohl nur bis zur vierten erschien. Jede Mappe enthält dabei ein Textheft mit umfangreichen Erläuterungen zu Ostwalds Formenharmonien sowie zu den konkreten, in der Mappe versammelten Beispielblättern. Ostwald ging bei seinen Überlegungen davon aus, dass sich schöne Formen – insbesondere bei der Gestaltung von Flächen – aus geometrisch gleichartiger bzw. gesetzlicher Teilung ergeben, wobei insbesondere regelmäßige Drei-, Vier- und Sechsecke eine Ebene restlos ausfüllen und somit harmonische Muster bilden. Zugespitzt brachte Ostwald dies in der Formel „Gesetzlichkeit = Harmonie“ zum Ausdruck, die er von Goethe adaptiert hatte.
Diesem Grundsatz verlieh Ostwald in der Mappenfolge mit zahlreichen Beispielen geometrisch konstruierter Flächenteilungen Nachdruck. In Mappe 1 widmete er sich dem Dreieck als Grundmuster. Dabei ging er zunächst von einem Einzeldreieck aus, das nur über seine drei Seiten und Eckpunkte verfügt und dadurch lediglich ein gleichförmiges Netz ergibt. Durch die Erweiterung dieses Dreiecks zu größeren, aus 4, 9, 16 und schließlich 25 gleichförmigen Teildreiecken bestehenden Elementen mit entsprechend mehreren Knotenpunkten der Dreiecksspitzen, ergeben sich in Ostwalds Formenwelt ungezählte Möglichkeiten, regelmäßig angeordnete Figuren in diese Strukturen einzutragen. Durch Spiegelung bzw. Drehung lassen sich diese zu einem nahtlosen, praktisch unbegrenzten Netz erweitern.
Wie in seinen Werken üblich, führte Ostwald spezifische Begrifflichkeiten ein, die dem allgemeinen Sprachgebrauch entlehnt sind, von ihm aber eine ganz spezifische Bestimmung zugesprochen bekommen: „Die jedem Muster beigefügten Namen, auf deren Wahl ich große Mühen verwendet habe, betrachte man nicht als Spielerei. Das Bedürfnis, die vorhandene reiche Formenwelt gedanklich zu beherrschen, habe ich nach ihrer Herstellung nicht anders befriedigen können, als durch eine solche Kennzeichnung.“ (W. O. Die Welt der Formen. 1. Mappe, Leipzig Unesma Verlag 1922, S. 19) Zu diesen Namen gehören beispielsweise „Das Netz“, „Der Dreisechs“, „Der Sechsstern“ oder „Der überschobene Dreispitz“ sowie zahlreiche weitere. Ostwald versuchte damit, seinem Theoriewerk eine allgemeine Zugänglichkeit für die Anwendung in Handwerk und Gewerbe zu ermöglichen. Wenngleich seine vier Mappen mit insgesamt 240 veröffentlichten Musterblättern eine faszinierende Welt geometrisch konstruierter Vorlagen zeigen und einen reichen Formenschatz anbieten, blieben sie am Ende doch ein weitgehend theoretisches Konstrukt. Obwohl, oder gerade weil es im frühen 20. Jahrhundert eine breit aufgestellte und vertiefte Ausbildung in vielen handwerklich-gestalterischen Berufen wie Dekorationsmaler oder Textilgestalter gab, fand seine, von einem naturwissenschaftlich begründetem Ordnungsstreben ausgehende, allerdings von Vielen als einschränkend empfundene Harmonielehre letztlich keinen fruchtbaren Boden.